Nicht alltäglich, aber aus dem Alltag

Nachricht 02. September 2012

Kunstausstellung „typisches + sakrales“ in der St.-Andreas-Kirche

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Die Skulptur steht stellvertretend für Frauen, die die Kirche seit Jahrtausenden tragen. „Doch müssen deswegen alle Besucher der Kirche das komplette Gesangbuch auswendig kennen?“, fragt Superintendent Helmut Aßmann. Fotos: Kreichelt

Kunstausstellung „typisches + sakrales“ in der St.-Andreas-Kirche ist eröffnet

Hildesheim. Was für Unverschämtheiten spielen sich denn in der St.-Andreas-Kirche ab? Da sitzt ein Mädchen auf der Kirchenbank und schaut die ganze Zeit unverblümt auf ihr Handy. Ein schlecht gekleideter Tourist setzt nicht mal während der Andacht „Andreas um 6“ seine Mütze ab. Und was bitteschön hat die Muslimin in der ersten Reihe verloren? Alles ganz normal – zumindest, so lange die Wanderausstellung „typisches + sakrales“ hier Station macht. Vom 2. bis 30. September gastieren zwölf lebensgroße Skulpturen im Gotteshaus. Alle Figuren wirken auf den ersten Blick wie ganz normale Menschen aus dem Alltag. Doch bei der Vernissage, eröffnet von Superintendent Helmut Aßmann, eröffnen ihre Geschichten einen ganzen Kosmos von Fragen.

Entworfen wurde die Wanderausstellung im Jahr 2005 in Sachsen von Kai Schmerschneider. Seit 2006 steht sie Kirchengemeinden in ganz Deutschland zur Verfügung. Sie soll im Rahmen der kirchlichen Kunst- und Kulturarbeit für Begegnungen in Kirchenräumen sorgen. „Denn Kirchenräume ziehen immer mehr Aufmerksamkeit auf sich. Schließlich strukturieren sie den Kontinent, Städte und Dörfer. Aber vor allem lösen sie Erinnerungen aus, denn in ihnen fühlt sich der Mensch Gott besonders nah“, erklärt Aßmann, bevor er einlädt, die einzelnen Skulpturen mal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Los geht es bei diesem ungehobelten Typen mit dem roten Käppi. Musikalisch vorgestellt wird er als Waldemar vom Duo „Schönundgut“, bestehend aus Katrin Löwensprung und Katinka Schwarz, die da singt: „Dieser Mann ist mein Ruin – doch ich liebe ihn.“ Aßmann geht dann tiefer auf diese Figur ein: „Waldemar sieht echt aus wie der letzte Hänger. Man sieht sofort, dass er am liebsten nach oben schaut. Dabei denkt er, die Kirche ist viel zu groß, und daran, wie viel schönes Geld dafür ausgegeben wurde. Doch wenn man ihm Geschichten über die Kirche erzählt, würde er wohl gerne zuhören. Später tritt er auch wieder in die Kirche ein. Dann zahlt er gerne die Kirchensteuer, auch wenn ihm nicht ganz klar wird, wofür sie gebraucht wird und was das alles überhaupt soll.“


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Wofür betet der Mann so inständig? Helmut Aßmann lauscht, Katinka Schwarz von „Schönundgut“ spielt dazu die Querflöte.

Weiter geht die Reise zu einer alten Dame, die da mitten in der Kirche steht. Ihr Gesichtsausdruck wirkt echauffiert. Aßmann stimmt ein Kirchenlied an, hält aber nach nicht mal zwei Takten inne und verleiht der Dame eine Stimme: „Kennt ihr das Stück denn nicht auswendig? Warum haltet ihr denn alle das Gebetsbuch falsch herum? Was sollen denn diese lauten Kinder in der Kirche. Ich bin jetzt 86 Jahre alt, ich gehe seit 70 Jahren in diese Kirche, ich kenne hier jeden Stein und ich bin mindestens jeden Sonntag hier. Ich kenne alle Lieder. Doch was ist bloß mit den Pastoren los? Ich kenne einen Mann, der wohnt mit einem Mann zusammen im Pfarrhaus. Die Jugend von heute ist auch nicht mehr zu retten. Bitte – versetzen sie sich doch mal in meine Lage!“ Stille. Aßmann ist wieder er selbst und fragt: „Was sollen wir denn jetzt machen?“ Sie sagt: „Das weiß ich auch nicht.“ Wieder herrscht Stille. „Solche Frauen sind es, die die Kirche über die Jahrtausende getragen haben. Diese Dame verdient unseren Respekt“, meint der Superintendent.

Zu dem frechen Mädchen mit dem Handy gibt es auch eine Geschichte. Diese jungen Menschen nämlich, deren „wichtigstes Körperteil das Handy ist“, mögen die Kirche nicht. Ein solches Dilemma spiele sich mittlerweile an jedem Wochenende ab. Jugendliche treffen sich seit Neustem vor der Kirche, trinken Alkohol und werden laut. Drinnen sitzen die Gläubigen. Ist es wirklich nur die Mauer, die sie voneinander trennt, fragt sich Helmut Aßmann. Unglaublich, aber wahr: Genau in diesem Moment klingelt ein Handy.

Text und Foto: Kultur & Kommunikation (Andreas Kreichelt)