Ökumenischer Gedenkgottesdienst zur Schlacht von Stalingrad: Superintendent Helmut Aßmann im Gespräch
Die Schlacht um Stalingrad gehört zu den größten Tragödien des Zweiten Weltkriegs. Rund 700.000 Menschen kamen ums Leben, und von den 108.000 deutschen Soldaten, die in sowjetische Gefangenschaft gerieten, kehrten nur 6000 zurück. Eine Ausstellung im Hildesheimer Rathaus erinnert an den Kessel von Stalingrad, zur Eröffnung am 15. Oktober wird um 14 Uhr in der St.-Andreas-Kirche ein ökumenischer Gedenkgottesdienst gehalten. Die Leitung haben Superintendent Helmut Aßmann und Dechant Wolfgang Voges. Helmut Aßmann erklärt im Interview mit Ralf Neite, wie es zu dem Gottesdienst kommt.
Herr Aßmann, Sie waren von 1993 bis 1998 Militärpfarrer. Beeinflusst das Ihre Sicht auf Stalingrad?
Aßmann: Ich glaube, ich habe ein etwas genaueres Verständnis für das, was da stattgefunden hat. Für die Zwänge, in denen die Soldaten stecken – hüben wie drüben. Man muss zwischen der ethischen und der militärischen Wahrheit unterscheiden.
Warum ist Stalingrad überhaupt ein Thema für die Kirche?
Aßmann: Ich spreche da auch für Herrn Voges: Stalingrad ist ein Symbol. Es steht für einen Größenwahn, der sich selber erschöpft, weil er die Kräfte des Lebens missbraucht.
Und deshalb muss die Kirche Stellung beziehen?
Aßmann: Ja. Die Kirche hat hier drei Aufgaben – mit aufsteigender Wichtigkeit. Die erste ist moralischer Natur: mitzuhelfen, dass wir solch einem Größenwahn nicht noch einmal verfallen. Dieser Punkt ist natürlich relativ platt: Man sagt immer, das darf nicht wieder passieren, aber die Menschheit lernt nicht wirklich. Die zweite Aufgabe ist eine geschichtliche, um Altbischof Huber zu zitieren, ein Beitrag zur Gedenkkultur bei schmerzlichen Ereignissen. Es gibt immer weniger Zeitzeugen, aber Stalingrad steckt gewissermaßen tief in den Gliedern des Volkes, weil so viele Familien und ihre Nachkommen davon betroffen waren. Die Aufarbeitung und Deutung dieses Ereignisses kann nicht allein eine Aufgabe der Bundeswehr sein – und die der Veteranenverbände schon gar nicht.
Erinnern, aufarbeiten und deuten sind andererseits keine genuin christlichen Felder. Das tun andere auch.
Aßmann: Richtig, und deshalb ist der dritte Aspekt, der theologische, auch der wichtigste: Wir müssen deutlich machen, wie unheimlich das Leben ist.
Was meinen Sie mit unheimlich?
Aßmann: Unheimlich ist, dass Armeen oder ganze Völker durch die Entscheidung Einzelner in den Untergang gerissen werden. Und dass wir nicht davor gefeit sind, dass es wieder passiert. Im Fall von Stalingrad war es General Paulus, der sich seinem Treue-Eid zu Hitler verpflichtet fühlte und deshalb Stalingrad nicht aufgab. Die Tragödie geschieht am Ende durch Taten einzelner Menschen. Anders gesagt: Der Ort, wo die Unmenschlichkeit beginnt, ist immer das eigene Herz. Die Orientierung unseres eigenen Herzens ist mithin die fundamentale Voraussetzung dafür, dass wir gegenüber politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entwicklungen wach und kritisch bleiben. Der Glauben gibt uns dabei Orientierung: Das Leben selber ist etwas Heiliges, die Vollendung des Menschen liegt nicht im Machtgewinn, sondern in der Hingabe für andere.
Sie sagten vorhin, dass sich die Menschen nicht ändern.
Aßmann: Ich glaube, dass die Menschheit nicht durch Katastrophen lernt, sondern durch eine vertiefte Erkenntnis Gottes. Die Kirche öffnet deswegen Räume, in die hinein eine solche Erkenntnis stattfinden kann. Aber wir können sie den Menschen nicht aufnötigen, denn dann würden wir die Religion als Machtmittel missbrauchen.