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Frau Holle wäre als Bundeskanzlerin auch eher der mütterliche Typ

Nachricht Hildesheim, 12. November 2013
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Heide Simonis. Foto: Barth

Heide Simonis liest in der Citykirche St. Jakobi „Alles Märchen!“

Hildesheim. Heide Simonis liest. Oder nein, sie singt. Denn die SPD-Politikerin, ehemalige Ministerpräsidentin, hat nicht nur ein Buch mit eigenwilligen Märcheninterpretationen herausgebracht, sie ist auch Präsidentin des Chorverbandes Schleswig-Holstein. Und so stimmt sie mit den zeitig eingetroffenen Zuhörerinnen und Zuhörern ihrer Lesung einfach ein paar Volks- und Abendlieder an, ehe es richtig losgeht. Das klappt, der spontane Chor legt kräftig los. Vielleicht ist es der Kirchenraum in der Citykirche St. Jakobi, der Heide Simonis zu diesem Auftakt angeregt hat.

Doch der Einstieg täuscht, Heide Simonis kann auch anders. Sie hat sich einige bekannte Märchen vorgeknöpft und aus der Perspektive der handelnden Figuren neu erzählt. Märchen müssten sich mit den veränderten Wertvorstellungen auch wandeln, meint die Autorin. Und die Rollenbilder in den Märchen, die ewig bösen Stiefmütter zum Beispiel, gefielen ihr nicht.

Der Kampfgeist einer jetzt 70-jährigen Frau, die sich in der von Männern beherrschten Welt der Politik zu behaupten wusste, wird allerdings in den kurzen Interviews zwischen den Lesestücken noch deutlicher. Diana Schild vom Lutherischen Verlagshaus, die Heide Simonis auf ihrer Lesereise begleitet, entlockt der Autorin ein paar pointierte, manchmal auch ein bisschen schnoddrig-freche Antworten. Der Zusammenhang zwischen Märchen und Politik sei wohl offensichtlich, meint Heide Simonis und fügt einschränkend hinzu: „Nicht alle Politiker sind Ferkel.“

Nicht nur im Märchen, so Heide Simonis, zeigten sich Männer oft als Weicheier und Schwätzer. Allerdings dürften sich Frauen auch nicht an Ungerechtigkeiten gewöhnen und beispielsweise schlechtere Bezahlung für gleiche Arbeit einfach hinnehmen, sie sollten vielmehr schreien, kreischen und auf den Tisch schlagen.

Etwa so wie die Katze in ihrer Version der Bremer Stadtmusikanten. Das ist sozusagen eine Fortsetzung der bekannten Geschichte und Heide Simonis nutzt sie für eine Spitze gegen die Bremer Tradition der Schaffer-Mahlzeit, bei der Frauen bis auf ganz, ganz wenige Ausnahmen bis heute nicht zugelassen sind. So werden auch die Stadtmusikanten um das üppige Mahl gebracht, weil die weibliche Katze nicht in den Saal darf. Denn sich still zu verhalten und hineinzumogeln, das liegt ihr nicht.

Simonis’ Märchen amüsieren vor allem durch kleine Spitzen und eingebaute Mosaikstückchen realer Gegenwart in der Märchenwelt. Da kämpft Schneewittchens Stiefmutter mit Botox um ihre schwindende Schönheit, die Pechmarie träumt vom schnellen Geld in der Werbe- oder Modebranche und Dornröschen leidet nach ihrem hundertjährigen Schlaf unter Mundgeruch. Der Witz der neu erzählten Märchen erschließt sich Leserinnen und Lesern vor dem Hintergrund der Originale.

Allerdings nimmt deren Bekanntheit auch die Spannung – es ist eben kein Geheimnis, dass die „Sieben auf einen Streich“ keine gefährlichen Räuber, sondern nur Fliegen waren. Und dass die Königstochter den Namen des bösen Rumpelstilzchens am Ende herausfinden wird. Auch hemmt ein wenig den Fluss, dass Heide Simonis häufig indirekte Rede verwendet und die Märchen nicht chronologisch erzählt.

Die Umdeutung der Geschlechterrollen im heutigen Sinne gelingt selten, dafür müssten die Märchen noch viel mehr auf den Kopf gestellt werden. Auch in den Versionen von Heide Simonis liegen Geld und Macht meist beim König oder Vater, während die jungen Mädchen ihre Hoffnung auf eine gewinnbringende Heirat setzen – oder wie die Goldmarie für Bescheidenheit und Fleiß belohnt werden.

Die Rolle der Stiefmutter kommt nur im Aschenputtel ein bisschen besser weg, indem sie sich als Drahtzieherin hinter der ganzen Geschichte mit dem verlorenen Schuh entpuppt. Gibt es in all den Märchen überhaupt eine weibliche Figur, die sich zur Bundeskanzlerin eignen würde, erkundigt sich Diana Schild. Frau Holle vielleicht? „Ja, so ein bisschen mütterlich…das haben wir ja im Moment“, meint Heide Simonis.

Am Ende gibt es anhaltenden Applaus für die Autorin, und damit hat auch die Citykirche St. Jakobi eine Art Generalprobe bestanden. Denn im nächsten Jahr soll sie zur Kulturkirche mit Schwerpunkt Literatur werden, kündigt Helmut Aßmann, Superintendent des Kirchenkreises Hildesheim-Sarstedt, in seiner Begrüßung an. Zu Jahresbeginn werde ein hauptamtlicher Intendant seine Tätigkeit aufnehmen, ab Ostern soll es dann losgehen mit dem Programm.

Info-Abspann
Das Buch „Alles Märchen! Insider packen aus“ von Heide Simonis mit Cartoons von Steffen Butz ist im Lutherischen Verlagshaus Hannover erschienen und kostet 24,90 Euro. 

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Im Gespräch mit Diana Schild vom Lutherischen Verlagshaus zeigt Heide Simonis die kämpferische Seite einer Frau, die sich in der Welt der Politik durchgesetzt hat. Foto: Barth