Zwischen Bach und Sprachgewalt: Literaturhaus St. Jakobi Hildesheim ist eröffnet
Der Raum hat sich verändert. Es ist das selbe Kirchenschiff, schon, nur ist eine neue Schwingung spürbar. Kein roter Teppich für den Neubeginn, sondern ein Band, ein Weg aus aufgeschlagenen weißen Büchern im Mittelgang. Sie bilden das Zentrum, alle Stuhlreihen weisen dorthin. Darüber schwebt ein großes Mobile – noch mehr Buchseiten. Nach zweieinhalb Jahren Schließung hat sich die CityKirche ins „Literaturhaus St. Jakobi Hildesheim“ weiter entwickelt.
Der Auftakt trägt den Titel „Prolog“, weil erst im September die Premieren-Spielzeit beginnt. Normalerweise dienen Vorworte als Hinführung zum eigentlichen Inhalt, doch an diesem Abend ist das anders. Die Grußworte und Kommentare sind hier einmal keine nüchterne Vorreden, sondern tragen ein Versprechen in sich: dass Literatur und Spiritualität hier in einer ganz neuen Weise zueinander finden können; im weiten Feld zwischen dem Bachpräludium, das Andreaskantor Bernhard Römer zur Begrüßung an der Orgel spielt, über die Lieder der Songwriterin Sarah Brendel bis zur Sprachgewalt großer Autoren von Shakespeare bis Whitman, deren Worte und Geist die Redner mitgebracht haben: Landesbischof Ralf Meister, Schriftsteller und Literaturprofessor Hanns-Josef Ortheil, Oberbürgermeister Ingo Meyer, prosanova-Vertreter Stefan Vidovic und Professor Christian Schärf als Leiter des Instituts für Literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim.
Superintendent Helmut Aßmann und Literaturhaus-Intendant Dirk Brall, die zu diesem Prolog eingeladen haben, ist die Freude über das Ende der langen Denkpause deutlich anzumerken. Die evangelische Kirche betrete in St. Jakobi, im 500. Jahr nach der Weihe der Kirche, nun Neuland - wobei Sprache und Wort „Uranliegen der Reformation“ seien, wie Helmut Aßmann vor rund 450 Menschen in der bis auf den letzten Platz besetzten Kirche feststellte.
„Wir gründen heute eine Geschichten-Erzähler-Kirche“, sagte Landesbischof Ralf Meister. Freilich würden in jeder Kirche Geschichten erzählt, „aber nicht so frei, nicht so ungezähmt“. Den Auftrag an St. Jakobi zitierte er so: „Verstört die Bequemen und tröstet die Verstörten!“ Er wünschte sich göttliche Sprache und „all umfassenden Aufruhr“, der aus den Texten spreche. Das Ziel sei nicht Erlösung, sondern Weisheit.
Der Autor Hanns-Josef Ortheil ordnete St. Jakobi in die Tradition der Literaturhäuser ein, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind. Hier gehe es weniger um Lesungen im klassischen Sinne, so Ortheil, sondern um öffentliche Debatten über Literatur, die erst im Entstehen ist. Um neue Formate und Inszenierungen von Texten. Um kreative Ereignisse, die nicht am Reißbrett geplant würden, sondern einer eigenen Dynamik folgten. „Hildesheim ist etwas Besonderes in der Phalanx deutscher Literaturhäuser“, befand Ortheil, nämlich durch die Verbindung mit einem Pilgerraum, dessen Geschichte bis ins 12. Jahrhundert zurückreiche.
Der Intendant Dirk Brall sei somit „der erste Pilger, der in unserem Literaturhaus angekommen ist“, setzte Hanns-Josef Ortheil den Gedanken fort. Durch seine Erfahrungen als Autor, Verleger, Herausgeber einer ambitionierten Zeitschrift und viele andere Aktivitäten sei Brall die „perfekte Besetzung“ für die Leitung einer Literaturkirche als „mobiler Station meditativer Erfahrung“.
Am Programm und an den Inhalten werde derzeit noch gefeilt, berichtete Dirk Brall. Neben Literaturveranstaltungen sollen wöchentliche spirituelle Angebote wie das Friedensgebet wieder aufgenommen werden. Er hoffe auch, die Kirche täglich als Ort der Stille und Inspiration öffnen zu können. Dazu bat er die Gäste noch um ein wenig Geduld: „Manche Wege kann man nicht planen, man kann sie nur gehen.“