Der Chefredakteur der ZEIT warnt vor "Empörung" als Inhalt der medialen Berichterstattung / Bedauern über doppelte Stimmabgabe bei Europawahl
Hildesheim. Langanhaltenden Applaus spendeten die 850 Gäste in der Hildesheimer St.-Michaelis-Kirche am vergangenen Mittwoch Giovanni di Lorenzo nach seinem Vortrag zum Thema "Die Macht der Medien in Deutschland". Der ZEIT-Chefredakteur hatte sich beim Jahresempfang des Kirchensprengels Hildesheim-Göttingen in der Hildesheimer St.-Michaelis-Kirche für mehr Verhältnismäßigkeit der Medien besonders in der Berichterstattung über Politikerinnen und Politiker ausgesprochen. Kurz nahm er auch Stellung zu seiner doppelten Stimmabgabe bei den Europawahlen, die in den vergangenen Tagen für Diskussionen gesorgt hatte.
"Es war ein Irrtum. Ich hätte das nicht tun sollen," sagte der Journalist, der die deutsche und italienische Staatsbürgerschaft besitzt und zwei Wahlbenachrichtigungen erhalten hatte, denen er nachgekommen war. Der Landesverband Sachsen der Alternative für Deutschland (AfD) hat inzwischen Strafanzeige gegen di Lorenzo gestellt. Aufgrund des laufenden Verfahrens bat der Journalist um Verständnis, dass er sich nicht detailliert zu dem Vorgang äußern könne. Die Reaktion in den Medien auf seinen Fehler habe ihn nicht überrascht, so di Lorenzo weiter. Gleichzeitig fragte er aber auch, was es über die Medien insgesamt aussage, wenn diese Vorgänge im Internet mehr Aufrufe hätten als Berichte über die Ergebnisse der Europawahl an sich.
In seinem Vortrag hob Giovanni di Lorenzo dann zunächst hervor, dass der investigative Journalismus in den zurückliegenden Monaten herausragende Leistungen erbracht habe wie die die Enthüllungen zu den Vorgängen beim ADAC oder die Recherchen über die NSA-Überwachung. In diesem Zusammenhang unterstrich er auch die Bedeutung von gedruckten Medien. So sei der ehemalige NSA-Mitarbeiter Edward Snowden mit Glenn Greenwald vom englischen Guardian bewusst auf einen Zeitungsjournalisten zugegangen, da er sich davon eine umfassende und qualitativ hochwertige Aufbereitung der Informationen versprach. „Qualitätsjournalismus soll Menschen befähigen, sich ihr eigenes Urteil bilden zu können. Gerade Print- Medien haben die Stärke, den gesellschaftlichen Diskurs zu organisieren," so di Lorenzo.
Auf Deutschland bezogen sagte di Lorenzo, dass es kein Land mit einem unabhängigeren Journalismus gäbe. In den letzten Jahren stelle er aber in der medialen Berichterstattung einen immer stärkeren "Gleichklang" fest: Oft gehe es nur noch darum, "eine prominente Person gegen den Strich zu bürsten", die man vorher "im Rudel habe hochleben" lassen, um sie dann wieder fallenzulassen. Beispiele seien hier der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück oder der frühere Bundespräsident Christian Wulff. Gerade im letzten Fall hätte es "eine einzige beschämende Vorstellung" der Medien gegeben.
Die Folge einer solchen medialen Berichterstattung sei es, dass immer weniger junge Menschen sich ein Engagement in der Politik vorstellen könnten. Politikerinnen und Politiker von der lokalen bis zur Bundesebene müssten sich an Maßstäben messen lassen, denen sie kaum gerecht werden könnten: „Wollen wir unseren Persönlichkeiten und Politikern diese Last aufbürden, ein Leben lang Vorbild zu sein? Das schafft keiner – auch nicht die herausragenden Persönlichkeiten unserer Gesellschaft.“
In diesem Zusammenhang warb Giovanni di Lorenzo für ein "Prinzip der Verhältnismäßigkeit" in der Berichterstattung. Journalisten sollten sich immer bewusst machen, welche Folgen ihre Veröffentlichungen für die Menschen hätten, über die geschrieben würde. "Empörung" an sich dürfe nicht zum Inhalt der Berichterstattung werden. Journalisten müssten "empathischer und verständnisvoller" auf Menschen blicken, um so verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. „Diese Art von Journalismus ist kostspielig. Investigative Recherche, Korrespondentennetze und Qualitätsarbeit kosten viel Geld. Wir müssen einen Weg finden, diese kostbaren Inhalte auch in der digitalen Welt zur Verfügung zu stellen. Nur so können wir Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit bewahren.“
Für den Bereich der Tages- und Wochenzeitungen gehe es darum, auch Mut zu neuen publizistischen Entwicklungen zu haben. Als Beispiel nannte di Lorenzo die neuen "ZEIT"-Seiten unter der Überschrift "Glauben & Zweifeln", mit denen ein verstärktes Bedürfnis der Menschen nach der Auseinandersetzung mit Sinnfragen aufgenommen werde. Auch die neuen Lokalseiten der ZEIT für Hamburg seien ein spannender Versuch, auf den es zahlreiche positive Rückmeldungen gegeben habe.
Landessuperintendent Eckhard Gorka hatte Giovanni di Lorenzo zu Beginn des Empfangs dafür gedankt, dass dieser an seinem Kommen "trotz der Turbulenzen" der letzten Tage festgehalten habe. Unter den Gästen konnte der leitende Geistliche des Sprengels Hildesheim-Göttingen zahlreiche Bundes-, Landes- und Lokalpolitiker sowie Vertreter aus Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft begrüßen. Der Empfang des Sprengels in der Hildesheimer UNESCO-Welterbekirche St. Michaelis findet einmal im Jahr statt. Referenten in den vergangenen Jahren waren u.a. der heutige Bundespräsident Joachim Gauck, die früherer Landesbischöfin Margot Käßmann, die Publizistin Beatrice von Weizsäcker oder der Historiker Rudolf von Thadden.
Zum Kirchensprengel Hildesheim-Göttingen, der in neun Kirchenkreise unterteilt ist, gehören knapp 400 Kirchen- und Kapellengemeinden im südniedersächsischen Raum zwischen Peine und Göttingen, Hameln und Osterode mit über 500.000 Gemeindegliedern.