Uns kann`s doch nicht egal sein

Nachricht Hildesheim, 13. November 2017

Soziale Verantwortung und Gerechtigkeit in Religion und Wirklichkeit

Hildesheim. Was die religiösen Quellen über Gerechtigkeit sagen und was daraus praktisch folgt, darüber tauschten sich während eines Fachtags in Hildesheim Vertreter von Kirche, Religionen und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit aus. Rund 50 Teilnehmende kamen zu diesem dritten Netzwerktreffen der Evangelischen Bildung, das im Rahmen der KinderKathedrale in der Hildesheimer Lamberti-Kirchengemeinde stattfand.

Mit dem Titel der Veranstaltung „Ist denn das gerecht?“ war die Frage verbunden, welche Visionen eines friedlichen und gerechten Miteinanders in der Überlieferung der Religionen enthalten sind. Welche Kraft können diese Visionen heute noch entfalten? Im Austausch zwischen Religionsvertretern aus Judentum, Christentum, Islam und Bahaitum wurde deutlich: Große Worte und hehre Ansprüche finden sich vergleichbar in den verschiedenen heiligen Schriften.

„Der Gerechtigkeit jage nach“, zitierte Dr. Gabor Lengyel, Rabbiner der Liberalen jüdischen Gemeinde Hannover, die Tora und erklärte, was für eine Bedeutung darin Gottes Gerechtigkeit zukommt wie auch die Weisung an die Menschen für ein gerechtes Handeln untereinander. „Das ist die Theorie, ein hohes Ideal“, so Lengyel. „Die Praxis ist eine andere: Da sind wir alle Menschen, die oft genug nicht so können wie wir wollen und sollen.“

Prof. Dr. Carsten Jochum-Bortfeld vom Institut für Evangelische Theologie der Stiftung Universität Hildesheim führte anhand vieler Stellen im Alten und Neuen Testament aus, was für ein kraftvoller ethischer und politischer Auftrag darin zu entdecken ist. Jeder Mensch solle diesem göttlichen Ideal nacheifern: Das Leid der Mitmenschen sehen, Ungerechtigkeit benennen und nach Lösungen suchen.

Auch im Islam kommt der Gerechtigkeit eine wichtige Bedeutung zu, erläuterte Hamideh Mohagheghi, muslimische Theologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn. Dabei gebe es im Koran mehrere arabischen Begriffe dafür: Zunächst im Sinne von Recht und Wahrhaftigkeit im Gegensatz zur Tyrannei, dann als soziale Gerechtigkeit und zudem als Grundhaltung gegenüber Mensch und Umwelt. Jeder Mensch müsse sich fragen, wie durch sein Handeln die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft ausgeglichen werden könne: „Beispielsweise durch Teilen“, erklärte Mohagheghi. „Jeder fange bei sich selbst und im eigenen Umfeld an.“

Auch in der Religion der Bahá’i spielt Gerechtigkeit eine große Rolle, das konnte Ali Faridi, Mitglied im geistlichen Rat der Bahá’i in Hannover, ausführen. Die noch recht junge Religion, die Mitte des 19. Jahrhunderts im heutigen Iran gegründet wurde, bezieht sich ebenfalls auf den Stammvater Abraham und erkennt die Offenbarungen der vorangegangenen Religionen an. Ihr Offenbarer ist Baha'ullah. Für die Bahai ist die Gleichheit aller Menschen - gerade auch von Männern und Frauen - von großer Bedeutung und Gerechtigkeit ein zentrales Thema. „Insbesondere die globale Gerechtigkeit liegt im Argen“, so Faridi. „Für die Realisierung der Einheit der Menschen in Gerechtigkeit und Frieden muss jeder etwas tun, und zwar gemeinsam mit Andersgläubigen und Nicht-Gläubigen.“

Was folgt aus den Maßstäben für gerechtes Handeln, die in den Schriften der Religionen aber auch in säkularen Grundsatzdokumenten wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert sind? Anregungen dazu lieferten Fachleute aus der Praxis: Dr. Hans-Jürgen Marcus, ehemaliger Caritasdirektor für das Bistum Hildesheim, wies auf die skandalöse Kinderarmut und mangelnde Teilhabe in unserem Land hin. Jedes fünfte Kind lebe dauerhaft in Armut. Er plädierte dafür, dass jeder achtgeben sollte, materiell arme Menschen nicht zu stigmatisieren und auszuschließen. Zudem müsse die Gesellschaft deutlich mehr in die Bildung aller Kinder investieren.

Marion Rolle von der Fachstelle Globales Lernen beim Verband Entwicklungspolitik Niedersachsen und Nina Labode von El Puente stellten Bildungskonzepte und Projekte vor, mit denen schon die Kleinsten begreifen können, dass ihr Leben mit dem Leben anderer Kinder auf dieser Welt zusammenhängt: „Global ist ganz einfach und beginnt mit mir, mit meinem Konsum.“

Michaela Grön, Koordinatorin für Evangelische Bildung, hat den Fachtag organisiert. Er ist Auftakt einer vierteiligen Veranstaltungsreihe, die im Januar 2018 beginnt, sich mit Gerechtigkeitsfragen beschäftigt und mit konkreten Ideen Mut machen will. Am 18. Januar wird Christian Felber seinen Ansatz der Gemeinwohl-Ökonomie vorstellen. Am Ende der Reihe, am 10. April, liest der Autor und Philosoph Jürgen Wiebicke im Literaturhaus St. Jakobi. Er hat sich zu Fuß auf den Weg durch Deutschland gemacht und Menschen gefunden, die sich für mehr Zusammenhalt und ein gelingendes Gemeinwesen direkt vor ihrer Haustür einsetzen. Mehr Informationen zu der Veranstaltungsreihe „Wo Gerechtigkeit strömt“ gibt es unter www.eeb-hildesheim.de und der Telefonnummer 05121 – 1020394.