Hildesheim. Die künstliche Wunde, die die zehnjährige Maximiliane sorgfältig auf Judith Hoffmanns Unterarm anbringt, wird eine besonders schlimme. Latex, „Fresh Scratch“ und „Wundenfüller“, Schicht um Schicht mit dem Pinsel aufgetragen. Sehr realistisch sieht das aus. Aber das soll es ja auch. „Stigma to go“ heißt das Motto der Aktion, zu der die Diakonie Himmelsthür und das Roemer- und Pelizaeus-Museum aufgerufen haben. „Gönnen Sie sich ein Stigma und fühlen Sie nach, wie es ist, ausgegrenzt zu sein“, hatte Judith Hoffmann, die Regionalgeschäftsführerin der Diakonie Himmelsthür, vorher einladend in die große Schar der Gäste gerufen. Jetzt wird sie selbst zur Betroffenen.
„Stigma to go“ ist der Auftakt zu einem Projekt mit dem Titel „1200 Hildesheimer Gestalten“, mit dem die Diakonie Himmelsthür über das ganze Jahr verteilt einen bewusst aufrüttelnden Beitrag zum Stadtjubiläum leisten will. Neben dem Museum sind auch das Projekt Nordstadt.Mehr.Wert der Lebenshilfe, die proWerkstätten Himmelsthür und die Herberge zur Heimat im Boot. Hildesheim sei ein Vorreiter in punkto Inklusion, doch es sei noch eine Menge zu tun, sagt Judith Hoffmann. Um mehr Toleranz und gegenseitigen Respekt zu verwirklichen, um Menschen vom Rand in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Unabhängig davon, welche äußeren Merkmale sie tragen.
Und so entsteht an diesem Vormittag ein Wundmal nach dem anderen in den Gesichtern und auf den Armen zahlreicher Freiwilliger. Eventmanagerin Miriam Raabe hat genug Latex-Grundlagen für Stigmata vorbereitet, so dass keiner der rund 150 Gäste leer ausgehen muss. Die meisten von ihnen kommen aus der Diakonie Himmelsthür, sind Menschen mit Assistenzbedarf. Die künstlichen Wundmale stehen stellvertretend für körperliche oder seelische Verletzungen, überspitzen diese plakativ und deuten sie somit um: Jedes Stigma wird zur Toleranzbotschaft. Zum Abschluss spazieren alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch die Fußgängerzone zum Hauptbahnhof. Dort werden die eigenwilligen Toleranzbotschaften beim Tag der Bahnhofsmission in Kartons verpackt und mit dem Zug durch ganz Deutschland verbreitet; „Gebrauchsanleitung für Toleranz“ inklusive.
Neben dem Anliegen, die vielen Formen von Ausgrenzung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu tragen, verfolgt die Aktion aber noch ein zweites Ziel: das Museum als Kulturort für Menschen interessant zu machen, die bislang nicht zu den Stammgästen gehörten. Im Mittelpunkt steht der Besuch des „Museums der Sinne“, einem besonders gestalteten, barrierefreien Bereich. „Hier darf man Sachen machen, die man in einem Museum sonst nie tun darf“, sagt Museumsmitarbeiterin Julia Kruse bei der Führung – nämlich Dinge anfassen, die sonst hinter Vitrinengläsern geschützt werden. Wer kein Augenlicht hat, kann Objekte und Text erfühlen. Wer nicht lesen kann, darf sie sinnlich erfahren.
„Das, was wir hier haben, gibt es deutschlandweit noch nirgends“, betont RPM-Chefin Prof. Dr. Regine Schulz. Das „Museum der Sinne“ sei nur ein erster Schritt, so Regine Schulz: „Wir wollen diesen Ort auf jeden Fall barrierefrei ausbauen.“ Mit der Diakonie Himmelsthür sei bereits die nächste Kooperation in Planung, der „Kulturkoffer“. Statt nur auf Besucherinnen und Besucher zu warten, will das RPM in diesem Koffer seine Schätze zu den Menschen tragen.
Der „Stigma“-Tag hat jedenfalls schon reichlich Neugierde bei den Bewohnerinnen und Bewohnern der Diakonie Himmelsthür geschürt. „Sie sind so begeistert, dass wir auf jeden Fall noch Extra-Führungen buchen werden“, freut sich die gelernte Ägyptologin Miriam Raabe. Der nächste Termin der „1200 Gestalten“ folgt am 9. Mai. Dann soll auf der Lilie die Hildesheimer Steinsuppe erbettelt und gekocht werden.
Bilder:
RPM-Chefin Prof. Dr. Regine Schulz (oben auf der Treppe) begrüßte die Gäste im Museum. Fotos: Neite
Frank Auracher vom Projekt Nordstadt.Mehr.Wert der Lebenshilfe versorgt Doris Sprenger mit einem Wundmal – und ist selbst schon gezeichnet.
Im barrierefreien „Museum der Sinne“ sind alle Objekte zum Anfassen.
Konzentriert und sorgfältig geht die zehnjährige Maximiliane zu Werke: Das Stigma auf Judith Hoffmanns Unterarm wird eins von der besonders üblen Sorte.
„Stigma to go“ – dieses Angebot lassen sich viele im Museum nicht entgehen.
Beim Tag der Bahnhofsmission wurden die Stigmata als Toleranzbotschaften auf die Reise geschickt. Foto: Heuer