Von der Toleranz und ihren Grenzen

Nachricht Hildesheim, 30. Oktober 2019

Beim Reformationsempfang erteilt Doris Schröder-Köpf Menschenhass und Gleichgültigkeit eine Absage

Hildesheim. Es war ein großes Plädoyer für die Toleranz: Doris Schröder-Köpf, Landtagsabgeordnete und Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe, beschwor am Mittwochabend im Literaturhaus St. Jakobi die vielzitierten Werte des christlichen Abendlands. Dieser Geist aber könne nur bestehen, betonte die Gastrednerin beim Reformationsempfang des Kirchenkreises Hildesheim-Sarstedt, „wenn die Errungenschaften unseres Wertesystems für alle gelten“.

„Wieviel Vielfalt brauchen wir“ hieß die Titel-gebende Frage des Abends. Superintendent Mirko Peisert machte vor allem zwei Herausforderungen aus. Er deutete auf das neue Bühnenbild im Literaturhaus – Sandsäcke, die den Damm eines Flusses schützen. Peisert hatte dabei zunächst eine andere Assoziation: „Als ich das Bühnenbild sah, ist mir eigentlich als erstes das Stichwort ,Festung Europa' in den Sinn gekommen.“ Abschottung statt Vielfalt. Und dann der Anschlag von Halle. Peisert: „Das gibt der Frage nach Vielfalt noch einmal eine ganz neue Brisanz und Aktualität.“

Der wieder aufbrechende Antisemitismus in Deutschland und Europas Weigerung, Flüchtlinge aus Seenot zu retten: Diese beiden Aspekte bestimmten auch den Vortrag von Doris Schröder-Köpf – die übrigens Katholikin ist und aus einem bayrischen Dorf stammt, in dem es während ihrer Kindheit zwar einige Muslime, aber keine Protestanten gab, wie sie Peisert verriet.

Schröder-Köpf lobte den Mut und die Entschlossenheit, mit der Luther sich vor 500 Jahren für die Erneuerung der Kirche eingesetzt habe. Aber der Reformator sei auch ein Kind seiner Zeit gewesen und habe Juden gehasst. „Wie wir in Halle erfahren haben, wirkt dieses antisemitische Gift bis in die Gegenwart hin“, sagte die SPD-Politikerin und forderte: „Niemals dürfen wir diesen Menschenhass relativieren.“ 

Der versuchte Anschlag auf die Synagoge in Halle, ertrinkende Flüchtende im Mittelmeer, der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke: In der Gesellschaft gebe es Leute, die demokratische Rechte für sich einfordern, „während sie die Rechte anderer mit den Füßen treten“, so Schröder-Köpf. Dies gelte für den Rechtspopulismus, beziehe sich aber auch auf die Gleichgültigkeit vieler Menschen: „Wenn wir genauer hinschauen, besteht unsere Toleranz oft nur aus einem Achselzucken.

Doch Toleranz sei nicht „bloßes Hinnehmen und Erdulden“, sondern eine „aktive Anerkennung des oder der anderen Anderen“: Begegnung und Dialog. „Gleichgültigkeit lähmt eine Gesellschaft“, sagte Schröder-Köpf und: „Die Grenze der Tolerierbarkeit ist erreicht, wo die Menschenwürde verletzt wird.“ Als positive Beispiele für praktizierte Toleranz nannte sie den Einsatz kirchlicher Gruppen für Geflüchtete und andere Migranten. Zudem brach sie eine Lanze für Ökumene und interreligiösen Dialog, zitierte unter anderem den Koran: „So wetteifert um die guten Dinge.“

Karin Köhler, Mitglied des Kirchenkreisvorstands und der Landessynode, nannte den erst 2018 etablierten Reformationsempfang ein „Forum für starke Frauen“. Schon wegen der Rednerinnen – im vorigen Jahr war es Grünenchefin Katrin Göring-Eckardt – und aktuell auch wegen zwei Hildesheimer Frauen, die in St. Jakobi mit dem silbernen Facettenkreuz der evangelischen Landeskirche ausgezeichnet wurden: Almut Schwickert aus der Lamberti-Gemeinde und Gisela Meyer-Menk aus der Himmelsthürer Paulusgemeinde. Beide haben sich über Jahrzehnte für die Kirche engagiert.

Am Rande des Abends, der von Natalie Palsa und Toby Lüer jazzig untermalt wurde, spielte auch die Kulturhauptstadt-Bewerbung Hildesheims ein Rolle. „Was braucht eine Kulturhauptstadt, worauf kommt es an?“, wollte Mirko Peisert von Doris Schröder-Köpf wissen. „Ganz sicher kommt es nicht auf die Größe an“, entgegnete die Hannoveranerin. Sondern – auch hier – auf Vielfalt.  Ralf Neite