„Indien war ein großes Geschenk“

Nachricht Hildesheim, 08. März 2023

Michaela Grön reist mit dem Austauschprogramm „Kirche gibt´s auch anderswo“ nach Chennai und ist überwältigt von den Eindrücken und Erfahrungen

Hildesheim. „Indien war für mich ein großes Geschenk, sehr beeindruckend und aufregend und fremd“, sagt Michaela Grön. Anfang des Jahres hat sie mit dem Programm „Kirche gibt`s auch anderswo“ die indische Millionenmetropole Chennai besucht und ist eingetaucht in eine bis dahin unbekannte Kultur. Das Austauschprogramm „Kirche gibt`s auch anderswo“ für Mitarbeitende der evangelisch-lutherischen Kirche wird von der Landeskirche getragen und vom Ev.-luth. Missionswerk Niedersachsen (ELM) organisiert.

Michaela Grön, Gemeindereferentin an der Hildesheimer St.-Andreaskirche und Bildungskoordinatorin im Kirchenkreis Hildesheim-Sarstedt, hat im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu für vier Wochen den evangelischen Pastor S. Samuel Logan Ratnaraj bei seiner Arbeit begleitet. Zusammen mit ELM-Referentin Ute Penzel besuchte sie außerdem Projekte der Partnerkirchen des Missionswerks und unternahm auch auf eigene Faust kleine Erkundungstouren. Sie würde wohl noch Zeit brauchen, meint Michaela Grön, all die Eindrücke zu verarbeiten und sich darüber klar zu werden, wie sich der Besuch auf ihre Arbeit in Hildesheim auswirke.

„Als Niels von Türck das Programm hier im Ausschuss für Mission, Ökumene und Partnerschaft des Kirchenkreises vorgestellt hat, wusste ich sofort, dass ich das machen will“, erinnert sich Michaela Grön. Mit dem Projekt „Lernen eine Welt zu sein“ hat sie sich viel mit Fragen von Nachhaltigkeit und globaler Gerechtigkeit auseinander gesetzt. Der Kirchenkreis ist mit dem Projekt ein Friedensort der Landeskirche; da passte es gut, dass Pastor Logan Ratnaraj ebenfalls in Friedensprojekten arbeitet.

Gemeinsam mit dem Hildesheimer Superintendenten Mirko Peisert, der mit dem Austauschprogramm nach Südafrika gereist ist, absolvierte sie das Vorbereitungsseminar in Hannover. Sich die eigene Rolle als Vertreterin einer Wohlstandsgesellschaft ebenso bewusst zu machen wie auch den Hang, Eindrücke „in Schubladen“ stecken zu wollen, stand im Mittelpunkt der Vorbereitung. Mit dem festen Vorsatz, alles möglichst unvoreingenommen auf sich wirken zu lassen, trat Michaela Grön daher die Reise an. Und auch im Nachhinein hütet sie sich davor, ihre Beobachtungen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik gleich zu bewerten.

Nach rund 24-stündiger Reise landete Grön in Chennai: „Meine Sinne waren geflashed. Es war laut und bunt und wuselig. Es gab verschiedenste Gerüche; Menschen und Tiere tummelten sich auf den Straßen, es wurde viel gehupt und die Verkehrsregeln verstand ich überhaupt nicht.“ Umso mehr schätzte sie von Beginn an die Begleitung ihres Mentors Logan und dessen Frau Beryl. „Er war sehr fürsorglich und immer offen für meine Fragen zu Indien allgemein und zu seiner Arbeit im Besonderen." Der Theologe ist in Chennai sowohl in der Jesus King Church als Pastor tätig als auch in der vereinigten ev.-luth. Kirche in Indien (UELCI), in der sich die zwölf lutherischen Kirchen Indiens zusammengeschlossen haben.

Da er nicht im gleichen Stadtteil wohnt, in dem seine Gemeinde liegt, waren in der Millionenstadt oft lange Autofahrten nötig – eine gute Gelegenheit für Gespräche: über Predigtideen genauso wie über Herausforderungen der Kirche und ihrer Mitglieder, insbesondere angesichts des tief verwurzelten Kastendenkens und der Diskriminierung von Dalits, erzählt Grön. Pastor Logan sorgte auch dafür, dass sich die 49-Jährige zwischen den Terminen in ihrer Unterkunft in einem Studentenwohnheim erholen konnte, „und dass ich nicht verhungere: Das indische Essen war fantastisch!“

Michaela Grön erhielt auch Gelegenheit, sich selbst der Gemeinde vorzustellen. Im Hintergrund ist eine Abbildung der St.-Andreaskirche zu sehen.

Die Besucherin aus Deutschland war nicht nur Zuschauerin: „In zwei Kirchengemeinden gab Logan mir die Möglichkeit, mich vorzustellen und mit der Gemeinde zu beten und zu singen. Dann brauchte ich nach dem Gottesdienst eigentlich nur dazustehen, und die Leute kamen auf mich zu, um Selfies zu machen und mit mir ins Gespräch zu kommen.“ 65 Familien gehören zu Pastor Logans Jesus King Church; Gottesdienste und Veranstaltungen seien mit bis zu 150 Besuchenden immer sehr gut besucht gewesen, berichtet Michaela Grön.

Die Menschen sprachen gern mit dem deutschen Gast: „Eine Frau erzählte von plötzlicher Arbeitslosigkeit in ihrer Familie und dass sie in einer großen Krise seien. Sie bat mich darum, einen Segen zu sprechen. Als Nicht-Theologin und auf Englisch spontan die richtigen Worte zu finden, war nicht einfach.“ Bei allen Sorgen vermittelten die Gemeindemitglieder aber auch ein großes Gottvertrauen, erinnert sich Grön.

Über die Offenheit der Menschen staunt sie immer noch: „Dass ich als Fremde gleich bei der ersten Begegnung angenommen werde, fand ich bemerkenswert und auch anrührend“, sagt sie. Die Kirchengemeinde sei für die Gläubigen wohl so eine Art „Save Space“, als Minderheit in einer hinduistisch dominierten Umgebung. Unter der derzeitigen Regierung habe der Druck auf Christen und Muslime zugenommen. Gegenüber religiösen Projekten, die aus dem Ausland finanziert werden, gebe es Vorbehalte.

Zu den evangelischen Gemeinden gehörten fast ausschließlich Dalits, erklärt Michaela Grön, also Angehörige der „untersten Schicht“ der hinduistischen Gesellschaft, bzw. Adivasi, also die Nachkommen der Ureinwohner Indiens. Auch wenn das Kastenwesen offiziell abgeschafft ist, sei die Aufteilung in rituell „reine“ und „unreine“ Menschen noch ebenso präsent wie Diskriminierung und Gewalterfahrung. So habe die christliche Botschaft von Gleichheit und Würde und die Zusage, ein wertvoller und von Gott geliebter Mensch zu sein, eine besondere und auch politische Bedeutung, meint Michaela Grön. Zugleich verlören Christen durch die Kirchenmitgliedschaft - genauso wie auch Muslime - den Anspruch auf Sozialleistungen und Quotenregelungen, die eigentlich die Gleichberechtigung von Dalits fördern sollen.

All die Begegnungen und Erlebnisse, darunter eine Bischofseinführung und eine Hochzeit mit 2000 Gästen, wirken bei Michaela Grön noch nach. Wie auch die Beobachtung, dass es in Indien für Frauen eher unüblich und gefährlich ist, allein unterwegs zu sein. Dass viel Müll offen herumliegt. Auch die Gottesdienste klingen noch nach: mit den alten, bekannten Chorälen und jungen Leuten im Chor, begleitet von Geige, Piano und Schlagzeug in den hellen und bunt geschmückten Kirchen. Es dürfte jedenfalls viel Gesprächsstoff geben, wenn Samuel Logan Ratnaraj im Mai zum „Gegenbesuch“ nach Hildesheim kommt.  Susanne Zaulick