Hildesheim/East London. Die erste Woche hat er gebraucht, „um auf „Betriebstemperatur zu kommen“, sagt Mirko Peisert. Und das liegt nicht nur am Hochsommer, in den er vom einen Tag auf den nächsten gewechselt ist. Sondern viel mehr an den allgegenwärtigen sozialen Spannungen. An der Außenseiter-Rolle, die er als Mensch mit weißer Hautfarbe plötzlich hat. An den ständigen Stromabschaltungen. An der Tatsache, dass sogar Kirchen von Sicherheitszäunen oder Mauern umgeben sind, um sie vor Diebstahl zu schützen.
Hildesheims Superintendent ist für sechs Wochen aus seinem Büro am Michaelishügel ausgezogen, um in einer Gemeinde in Südafrika zu hospitieren. Ein Austauschprogramm des Lutherischen Missionswerks Hermannsburg hat es möglich gemacht. Anderthalb Monate lang begleitet und unterstützt Mirko Peisert seinen Kollegen Frank Schütte, dessen Familie deutscher Herkunft ist, aber schon seit Generationen in Südafrika lebt.
Schütte, 41, arbeitet in einer Gemeinde in East London, einer Stadt ungefähr so groß wie Braunschweig, 1000 Kilometer östlich von Kapstadt, direkt am Indischen Ozean. Die Landschaft sei traumhaft, sagt Peisert, die Strände wie aus dem Bilderbuch. Das Wetter mit 30 Grad im Schatten ebenso.
Doch der Alltag der Menschen ist das Gegenteil von Idylle. Die Kontraste zwischen arm und reich sind enorm, die Hälfte der Bevölkerung ist arbeitslos. Eine der Folgen ist die hohe Kriminalitätsrate – eine andere die Angst unter denen, die es besser haben. Frank Schütte, seine Frau und drei Kinder sind zwar nicht reich, gehören aber zur Mittelschicht. Und da ist es normal, sein Haus mit einer Mauer zu umgeben und einen elektrischen Zaun oben drauf zu packen.
„Dieser Perspektivwechsel reizt mich wirklich“, hatte Mirko Peisert vor seiner Abreise am 22. Januar gesagt. Nun berichtet er bei einem Treffen via Videokonferenz, dass ihn die Vielzahl und die Gegensätzlichkeit der Eindrücke in den ersten Tagen förmlich erschlagen hätten. Etwa die Begegnung mit den Menschen, die die Müllsäcke des Viertels, in dem seine Gastgeber:innen leben, nach etwas Verwertbaren durchsuchen. Schütte und Peisert haben Lebensmittel unter ihnen verteilt.
Korruption sei alltäglich in Südafrika, erzählt Peisert, „so geht ganz viel kaputt an Infrastruktur“. Ein viel diskutiertes Thema im Land sei beispielsweise die marode Stromversorgung. An einem guten Tag gebe es nur drei Stunden keinen Strom, an einem schlechten neun. Doch immerhin: „Wenn Strom da ist, funktioniert das Internet hier besser als in Deutschland.“
Vieles sei noch zu frisch, um ein klares Bild zu ergeben, sagt der Hildesheimer nach knapp zwei Wochen. Täglich lerne er Neues, besonders im Verständnis des immer noch präsenten kolonialen Denkens. Die meisten auf der Nordhalbkugel glaubten beispielsweile, alles besser zu wissen als die Menschen im globalen Süden. „Das relativiert sich für mich total. Allein, von Entwicklungsländern zu sprechen, ist ja schon kolonial.“ Dass auch die Kirche bei der Kolonialisierung eine unrühmliche Rolle gespielt hat und bis heute spielt, ebenso wie beim Thema Apartheit, sei ihm bewusst. Peisert hofft, noch mehr Einblicke und ein tieferes Verständnis für die Zusammenhänge zu gewinnen.
Außerdem ist er auf der Suche nach Impulsen für die Kirche zu Hause. „Für die nächsten fünf Jahre ist unser Kirchenkreis finanziell und personell durchgeplant“, sagt der 49-Jährige. „Für die längerfristige Perspektive fehlt mir ein bisschen die Fantasie.“ In Südafrika habe er die Chance, kirchliches Leben unter ganz anderen Bedingungen kennenzulernen: ohne Kirchensteuer, ohne Beamtentum, ohne voneinander abgegrenzte Gemeinden, mit nur wenigen Leitungsstrukturen. „Trotzdem ist die Kirche in Südafrika sehr relevant und lebendig“, sagt Peisert. „Das ist eine sehr gute Erfahrung mit Blick auf Deutschland.“ Ralf Neite