Hildesheim. Wer das Kreuz sucht, wird es auch finden. Obwohl es die Gäste in der mehr als 500 Jahren alten St. Jakobi-Kirche den Altarraum vor lauter Verkehrsschildern kaum sehen können, ist das christliche Symbol vorhanden: „Als Suchbild eingearbeitet ins Bühnenbild", sagt Intendantin Sarah Sophia Patzak. Die imposante Rakete der letzten Spielzeit ist gewichen, die Schilder weisen den Weg in die neue, die am 14. September beginnt. Die Besucher dürfen aktiv werden, wie so oft im Programm des Literaturhauses St. Jakobi, das nach den Spielzeiten "Gestern" und "Morgen" im "Jetzt" angekommen ist – dem Abschluss der Trilogie.
Jetzt: Das setzen Patzak und Bühnenbildner David Schnitter mit dem Moment gleich. Zum Beispiel dem Abend vor vier Jahren, als am New Yorker Times Square Millionen von LED-Lampen erloschen und plötzlich ungewollt der Architektur und den Menschen den Vortritt ließen. Dieser Moment hat Schnitter zu einem Bühnenbild inspiriert, in dem Straßenschilder - von der Autobahn bis zum Wanderweg - sich im Altarraum tummeln, allerdings sichtbar mit der Rückseite.
Schnitter versteht die unverwechselbaren Formen als Metapher für Unorte, das Dahinter, die Abkehr von Reizen, die Konzentration auf das Wesentliche - wie die Bühne, auf der im Literaturhaus die erweiterten Lesungen stattfinden werden. Das Literaturhaus - seit 2014 Kulturkirche des evangelischen Kirchenkreises Hildesheim-Sarstedt - setzt auch dieses Jahr auf einen Mix aus moderierten Lesungen und einem Vermittlungsprogramm, das dem Publikum neue Zugänge ermöglichen soll. „Ob zum eigenen Schreiben oder zu Themen der Gegenwart", betont Patzak.
Für das eigene Schreiben sorgt zum Beispiel Priestess in Residence Birgit Mattausch wieder mit ihrem Format "Espresso und Kunsten". Das 20-minütige Schreib-, Denk- und Ruheformat ist eigens von Montag auf Mittwoch verlegt worden, „damit vielleicht Markt-Besuchende den Weg zu uns in die Kirche finden", hofft Mattausch.
Und nicht immer ist das Jetzt positiv besetzt. So hat das Literaturhaus zum Welt-Alzheimertag am 21. September Helga Schubert eingeladen. In ihrem autobiografischen Buch „Der heutige Tag" erzählt sie von der Pflege ihres demenzkranken Mannes. "Das ist informativ, aber vor allem eine wunderbare, sehr poetische Liebesgeschichte", betont die Intendantin.
Die Hildesheimer Poetikvorlesung hält am 21. November Michael Fehr. In der neunten Auflage wird der Schweizer „das Ritual des Erzählens mit der Spiritualität der Musik verbinden", so Patzak – mit Improvisation, Musik und Gesang.
Neu im Literaturreigen sind die als Reihe angelegten "Gespräche über Männlichkeit". Initiiert wurden sie von Toni Tholen, Professor für Literaturwissenschaft und Geschlechterforschung an der Uni Hildesheim. Als erstes spricht er am 10. November mit Autor Fikri Anil Altintas, der in seinem Debüt „Im Morgen wächst ein Birnbaum" laut Patzak Migration und Männlichkeit in einer „intimen Reflexion" aufarbeitet. „Perspektivisch planen wir auch einen Podcast“, fügt sie hinzu.
Ebenfalls neu ist das Projekt "Weihnachten, wie es im Buche steht" - ein literarischer Weihnachtsmarkt in Kooperation mit dem Gerstenberg-Verlag am 2. Dezember. Zum Thema "Jetzt" gehört auch ein Wettbewerb für Schüler und Schülerinnen aller Schulformen ab der 9. Klasse. „Sie sollen über ihre Krisen erzählen: persönliche, globale, ökologische, wie auch immer." Siegerehrung zu "Stimmen der Krise" ist am 16. November.
Rund 3000 Gäste hat das Literaturhaus in der vergangenen Spielzeit, vor allem vom März bis Juli, erreicht. "Wir haben mit vielen Veranstaltungen und Aktivitäten das Level von vor Corona in etwa wieder erreicht". Ein bisschen Angst macht der Intendantin eine mögliche Schließlung der Galerie Kaufhof direkt gegenüber von der Kirche. "Aber ich habe Hoffnung, dass doch noch ein Ausweg gefunden wird."
Weitere Infos zum Spielzeitprogramm unter www.st.jakobi.de.